[ Fehntjer Kurier ]

Geschichten aus dem Overledingerland

Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze


Fehntjer Kurier vom 11.01.1990

Ostfriesische Spitzenware hält ein Leben lang

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Ostfriesische Spitzenware hält ein Leben lang
Reet, Reith oder Ried wird im Winter gemäht

Mitte Dezember stand in fast allen Zeitungen eine ganz kleine Notiz, die wohl kaum jemand verstanden hat. "Das Mähen des Reiths ist grundsätzlich nicht erlaubt."'

Die Bezirksregierung Weser-Ems hat diese Pressenotiz herumgeschickt, denn sie sei nach dem Bundesnaturschutzgesetz verpflichtet, die Schilf- und Reithbestände zu schützen. Die Flächen mit Altschilf, so die amtliche Erklärung, dienen verschiedenen Vogelarten und einer großen Anzahl von Insekten als Lebens- und Überwinterungsraum.


Die großen Reetflächen bieten vielen Tieren sommers und winters guten Schutz. Hier betrachten Jan Schulte aus Leer (rechts), Bernhard Nehuis, Spriekenborg, und links Geerd Beening aus Heerenborg halbflügge Rohrweihen (Circus aeruginosus) in ihrem Nest.

Die jungen Rohrweihen sind unterschiedlich alt, da sie nicht zur selben Zeit schlüpfen wie Hühner oder Enten. Zuerst hocken sie nur und heben zur Abwehr die flaumigen Flügel (rechts). Erst später richten sie sich zur vollen Größe auf, um den vermeintlichen Feind anzufauchen. Junge Greife lassen sich schwer bestimmen, da ihr Daunenkleid sich erst nach und nach verfärbt.       

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So weit so gut, denkt sich der unbefangene Leser, aber wer will denn überhaupt Reith schneiden - und wozu? Schon haben wir wieder ein heimatkundliches Thema. Früher, und eigentlich ist das noch gar nicht so lange her, früher wohnten die Menschen in mit Reith gedeckten Hütten. Wer sich das Bild von der Behausung des Oll Willm. betrachtet, der weiß, daß dieses "früher" auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg vorkam.


Eine der vier Hütten von Oll Willm in Großwolderfehn. Sie ist mit Reith gedeckt. Eine Hütte war sogar mit einem Volksempfänger bestückt, weshalb Oll Willm sonntags viel Besuch hatte. Die Kapellenstraße wurde auch "Willmstraße" genannt.
Foto etwa um 1934.

Schließlich besitzt ein solches Weichdach aus Schilf alle Vorteile des gesunden Wohnens. Es ist absolut regen- und schneedicht, frostbeständig, sturmsicher, atmungsaktiv, staubsicher und luftfilternd. Außerdem besitzt ein Reetdach besondere feuchtigkeitsregulierende und auch klimaregulierende Eigenschaften: Im Winter ist es unter einem Weichdach warm, im Sommer angenehm kühl.

Wenn ein solches Dach aus Reith so viele gute Eigenschaften hat, dann ist eigentlich verwunderlich. daß die heutigen Menschen unten Beton, oben Beton, darauf ein glaswollabgedichtetes Ziegeldach und rundherum doppelwändige Steinmauern mit Doppelglas und isolierten Fenstern bauen. Ob das wirklich gesund ist? Zumindest ist es billig. Und da jeder sein eigenes Häuschen besitzen will, ist der Kostenfaktor enorm wichtig. Ein Reetdach ist viel teurer, denn es ist gar nicht so einfach, solch ein Dach aus Ried oder Reith herzustellen. Außerdem gibt es wegen der leichten Entflammbarkeit dieses Materials besondere Auflagen: Der Grenzabstand muß wenigstens zwölf, wenn nicht sogar 15 Meter, betragen. Hinzu kommen die ziemlich hohen Brandkassenversicherungsprämien.

Solch ein Dach ist also nichts für Otto Normalverbraucher. Er darf sich den in Ostfriesland häufig vorkommenden Grundstoff ja nicht einfach selbst schneiden, leider. In unseren vielen Feuchtgebieten kommt das Ried, Reet oder Schilf überall vor. Am Großen Meer, einem ähnlich verlandenden See wie dem Langholter Tief, gibt es noch weite gelbe Reetflächen. Dort, in Bedekaspel, wohnt auch einer der wenigen Reetdachdeckermeister Deutschlands. Behrend Meyer beherrscht die uralte Handwerkskunst des Reetdachdeckens. Seit vier Generationen wird in seiner Familie dieses Handwerk ausgeübt.

Hier am Großen Meer zwischen Emden und Aurich haben die Anwohner noch das alte Recht, das fast zwei Meter hohe Reet zu schneiden. "Das Land Niedersachsen", so erzählte uns Behrend Meyer vor einigen Jahren, "ist Eigentümer des Sees. Aber die Anwohner haben von jeher hier Reet geschnitten und sich dieses Recht auch verbriefen lassen."

Die Ernte beginnt nach den ersten Nachtfrösten, wenn das Reet blattfrei beziehungsweise die Blätter abgetrocknet sind. An unzulänglichen Stellen wird mit der Hand gemäht. Bei frostsicherem Untergrund benutzt Behrend Meyer eine umgebaute Reiserntemaschine, die eigentlich für die Menschen im Fernen Osten hergestellt wurde.

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Nach dem Mähen müssen die Bunde gut ausgeschüttelt werden, damit Unkrautstengel und andere Verunreinigungen herausfallen. Die Niederländer haben schon eine Maschine entwickelt, die die Reetbunde automatisch auskämmt. Das ist natürlich eine große Arbeitserleichterung. Die fertigen Reetbunde werden anschließend im Freien zu torfähnlichen Bülten gestapelt,. bis sie dann später zum Decken eines Weichdachs abgeholt werden.


Bevor solch ein Reithbündel zusammengebunden wurde, schüttelte es Jan Beening ordentlich durch, damit etwaige Verunreinigungen herausfallen konnten.

Vater Jan Beening bündelte das geschnittene Reith. Wie alle Ostfriesen war auch er ein "süniger" Mensch: Die Kniepartien seiner Hose waren mit Taschentüchern geschützt, denn das Reith hatte sehr scharfkantige Blätter, die rasiermesserartige Schnitte verursachen konnten.

Die Reeternte richtete sich früher ganz nach dem Frostwetter. Schon bald wurde eine gesetzliche Regelung eingeführt:

Nur vom 1. Oktober bis zum Ende des Monats Februar darf Reet geerntet werden. Die Naturschützer möchten die hiesige Reetgewinnung am Großen Meer am liebsten überhaupt verboten wissen. Das ist aber problematisch.

Das Ried ist eine Sumpfpflanze, und als solche bildet sie mit ihren Wurzeln einen fauligen, sumpfigen Untergrund. Wenn sich die Reetflächen unkontrolliert ausdehnen können, verlanden unsere ehemals fischreichen Gewässer langsam. Wie kompliziert das pflanzliche Leben an langsam fließenden Gewässern ist, sehen wir am Langholter Tief. Es würde Unsummen kosten, unser immer mehr versumpfendes "Meer" zwischen Ost- und Westrhauderfehn wieder in ein gesundes Biotop zu verwandeln.

Das ehemals besonders dünnhalmige ostfriesische Reet ist mittlerweile durch die Gewässerverunreinigungen fast ausgestorben. Die hohen Stickstoffauswaschungen überdüngter Wiesen und Äcker sowie die bei einsetzendem Regen in die Gewässer gelangten Spritzmittel der Getreide- und Maisanbauer haben die einst gefragten Reetbestände zu weichen und kaum noch zu nutzenden Schilfbeständen degeneriert.

Die heute wieder häufiger zu sehenden Reetdächer haben ihr Material aus Ungarn, Polen, Dänemark oder Österreich importiert. Die ehemalige ostfriesische Spitzenwaren, die ein Leben lang hielt, gibt es fast nicht mehr. Und wo sie vorkommt, darf sie nicht mehr geschnitten werden.

Zum Jahresanfang paßt das kleine Gedicht von Heinrich Habbo Herlyn über den "Uitdieksboom": "Hoogup reckt sück een enkelde Boom in't Uiterdieksland an de breede Stroom. Almets, wenn de Tide to't Land ingeiht, hen over de breede Sööm van Reith, dann lett dat hast, as stunn de Boom dor buten merden in de Stroom. De Störm will hum bugen, dat Water trekkt, dat lis ritt hum Schören, man he reckt sück taje tegen Stärm und Stroom - de olle enkelde Uiterdieksboom! Kunnen wi Mensken so uprecht stahn - sull't uns faaktieds beeter gahn!


Die Brüder Gerd und Beene Beening beim Reithschneiden mit der Sichte etwa um 1935. Im Hintergrund ist die Trasse der Eisenbahnlinie Rheine – Emden zu erkennen. Hier im Dreieck zwischen Tjackleger, Heerenborg und Esklum gab es an den ehemaligen Mündungsarmen des Wallschlots ziemlich große Reithflächen (siehe Fehntjer Kurier vom 27.7.89)

Zur Verfügung gestellt von Gretchen Amft (5) und Johanne Nordmann.

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