[ Fehntjer Kurier ]

Geschichten aus dem Overledingerland

Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze


Fehntjer Kurier vom 29.08.1991


 

Die Cousinen bestaunten meinen weißen Unterrock

 

Ein Foto aus den Anfängen der Siedler östlich von Flachsmeer zum Dominalmoor hin, etwa um 1938. Die Stellen sind um 1928/9 zugeteilt worden. Im Hintergrund rechts der fast trockene Torf, davor ein versetzbarer Kaninchenhuk. Meines Erachtens bislang noch nie im Bild gezeigt: die hölzerne Pumpe rechts vor den jungen Obstbäumen. Familie Johann Bloem macht einen Kurzbesuch beim Siedlerhaus von Engberts. Links Dora Oberhoff, vorn der kleine Bernhard Bloem, hinter ihm Rena Bloem geb. Winterbur, daneben Johanne Poppen. Davor die kleine Schwantte mit ihrer Schwester Jantje Bloem sowie der Bruder Johann mit einem Nachbarsknaben. Neben der Pumpe mit Hut Johann Bloem senior, rechts Christine Bloem und mit dem Rücken zur Kamera Heidi Oberhoff. Ganz vorn der Mischlingshund Rex.


 


 

Erinnerungen an Stipp und heiße Pellkartoffeln

 

Neulich erhielt ich die Lebenserinnerungen einer Ostfriesin aus den Jahren 1909 bis 1923, maschinengeschrieben und geheftet. Eigentlich war sie gar keine "echte" Ostfriesin, denn sie wurde im Ruhrgebiet geboren. Der Geburtsort allein ist aber manchmal gar nicht so entscheidend. Ohne die Einzelheiten groß ausbreiten zu wollen, sei dazu erwähnt, daß die kleine ungeborene Dortje dorthin nach Lennep "getragen" wurde. - Wir meinen, daß einige Passagen aus diesen Erinnerungen für unsere Leser von großem Interesse sind.

"Am Gänsemarkt in Lennep wurde "es" geboren. Das war im September 1909. Dieses erste Kind kam wohl etwas verfrüht an. Die Mutter hatte das Körbchen noch nicht fertig, und die Hebamme, die später noch vier weitere Mädchen holte, zog einfach die untere Schublade des Kleiderschranks heraus, und darin wurde für das Kind ein kleines Bettchen gemacht.

Mutter und Vater stammten aus Ostfriesland. Das erste Kind mußte nach streng ostfriesischer Sitte den Namen der Mutter des Vaters bekommen. So wurde es Dorothea getauft. Papa war an der Eisenbahn in der Rotte. Die Eltern bekamen später eine Eisenbahndienstwohnung mit drei Stuben. Der dunkelpolierte ostfriesische Glasschrank mit den hauchdünnen Teetassen hinter den Scheiben kam hier so recht zur Geltung. Auch die Kommode mit der rotgestickten Kreuzstichdecke, worauf die beiden großen weißen Porzellanpudel mit den goldenen Schnäuzchen saßen, paßte vorzüglich in die neue Wohnung.

In die dritte Stube der neuen Wohnung wurde ein großes neues Bett hineingestellt. Der Bahnmeister in Lennep war auch ein Ostfriese. Er ließ kräftige junge Männer nach Lennep kommen, die er in seiner Rotte gut gebrauchen konnte. Zu uns kamen dann Papas jüngster Bruder, mein Onkel Hermann, und Mamas jüngster Bruder, mein Onkel Rudolf. Sie schliefen zusammen in dem großen Onkelbett.

Im Juni 1911 kam die Hebamme wieder zu uns. Weil die Großmutter mütterlicherseits "Schwanette" hieß und der Großvater "Berend", erhielt das zweite Kind nach ostfriesischer Sitte die Namen "Schwanette Bernhardine". Im folgenden Frühjahr fuhren die Eltern der beiden Mädchen zum Besuch der Verwandten nach Ostfriesland. Die Großmutter wohnte in Steenfelde. Dort sind alle Häuser gleich gebaut, nämlich mit roten Ziegelsteinen. Vorne war ein kleines Vorderhaus zum Wohnen, und dahinter lag das lange Hinterhaus mit dem tief heruntergezogenen Dach, wo das Vieh, das Heu und der Torf untergebracht sind. Dazwischen ist der Gang.

Die alte Friesenstube der Großmutter kann ich mir noch gut vorstellen. Der Fußboden bestand aus roten Ziegelsteinen, und an einer Kette im offenen Kamin hing ein großer schwarzer Kessel mit vier Füßen. Den Geruch der weißen Torfasche, der in der Stube und über dem ganzen Dorf lag, habe ich noch in der Nase. Die Großmutter nahm mich auf den Schoß und sagte: "Mien lüttje Leiwe."

Später erzählte mir Mama, mein Opa sei bereits gestorben, als ihr jüngster Bruder Rudolf erst vier Jahre alt gewesen sei. Er habe sich totgearbeitet und einen krummen Rücken gehabt vom Schubkarrefahren. Bei allen größeren Bauern im Dorf habe er ausgeholfen. Nebenher sei er noch Leichenbitter gewesen und habe mit der Oma zusammen die Kirche sauber gehalten und den breiten Friedhofsweg. Wenn er eine Leiche "umsagen" mußte, habe er zunächst die Totenansage auswendig lernen müssen, weil er in seiner Jugend lesen und schreiben nicht gelernt habe. Seine Eltern hätte so weit ab im Moor gewohnt, wo es keine Schule gab.

Zwölf Kinder waren dagewesen und nur eine Kuh. Alle Kinder mußten um den Tisch herum stehen. Nur die Eltern durften sitzen, und das Kleinste kam auf den Schoß. Die Pellkartoffeln wurden einfach auf den blankgescheuerten Tisch geschüttet, und die Pfanne mit dem Stipp (eine Speck-Zwiebel-Soße) in die Mitte gestellt. Nur die Kleinen, die noch nicht so lange Ärmchen hatten, bekamen ein Stück Butter auf den Unterteller. Jeden Abend gab es Buttermilchbrei und eine Scheibe trockenes Schwarzbrot. Mama sagte, sie seien immer alle satt geworden.

An der Eisenbahn war Papa nun Streckenläufer. Er mußte alle Schrauben an den Gleisen nachprüfen, ob sie noch fest waren. Im Dezember 1913 kam die Tante Hebamme wieder einmal zu uns. Das neue Schwesterchen wurde in ein hübsches Körbchen gelegt. Da Papas Vater "Harm" geheißen hatte, wurde daraus ein "Hermine" gemacht und noch ein "Henriette" angehängt.

Sonntags nachmittags kamen Tante Mimi und Onkel Diederich abwechselnd einmal zu uns, oder wir besuchten sie. Onkel Diederich war Mamas Bruder und auch aus Ostfriesland mit Tante Mimi nach Lennep an die Eisenbahn gekommen. Tante Mimi wollte immer "Kinder tauschen". Sie hatte nämlich drei Jungen und wollte doch so gerne wenigstens ein Mädchen haben...

Papa brauchte kein Soldat zu werden, denn er war farbenblind. Ich war nun schon fast acht Jahre alt und konnte mich alleine waschen und kämmen. Weil ich dies nun konnte, sollte ich in den großen Ferien nach Ostfriesland zu den Verwandten. Dort hätten sie mehr zu essen, satt Milch für mich zu trinken, und die Luftveränderung würde mir auch guttun, meinten die Eltern. Vielleicht könnte Netti auch dort bleiben, wenn sie kein Heimweh bekäme. Vetter Bernhard sollte auch mit. Sein Vater war in Rußland Soldat.

Papa fuhr mit uns dreien in "Richtung Norden". Endlich kam der Bahnhof Steenfelde. Ein richtiger Bahnhof war es nicht, nur eine kleine Haltestelle. Tante Mintje, Mamas Schwester, war mit einer Schubkarre da, und darauf luden wir unser Gepäck. Wir gingen den schwarzen Bahnhofsweg hinunter ins Dorf, und sofort roch ich den Geruch der Torfasche. Die Tante wohnte mit ihren drei Jungen in Omas Haus. Der Onkel war im Krieg. An der Stelle des offenen Feuers stand nun ein hübsch bemalter Herd. Auf der Kommode standen die gleichen weißen Porzellanpudel wie bei uns zuhaus. Wir tranken Tee und aßen Mettwurstbrote. Zwei meiner kleinen Vetter saßen unter dem Küchentisch auf dem Fußboden. Sie waren sehr scheu und riefen nur ab und zu: "Mama, ik will noch'n Stücksche Brot" oder: "Mama, ik will ok'n bitje Tee". Die Tante gab ihnen alles unter den Tisch. Später haben wir uns dann das Schwein im Stall und den Garten besehen, und am andern Morgen zogen wir weiter nach Flachsmeer.

Dorthin führte ein langer, weicher Sandweg. Alle Kinder, die wir sahen, liefen barfuß. Papa kannte die Leute in jedem Haus, an dem wir vorbeikamen, und alle grüßten "Moin". Dieser Gruß gilt in Ostfriesland von morgens bis abends. Schon von weitem konnten wir das Haus von Tante Stientje sehen. Die Kinder kamen uns entgegengelaufen, und die Tante begrüßte uns am Gartentor. Sie sah lieb aus, war auch eine Schwester von Mama, nur größer und stärker.

Die Cousinen besahen mich von oben bis unten, hoben mein Kleid hoch und bestaunten den weißen Unterrock und die Festonspitzen an meiner Hose. Wir tranken wieder Tee und aßen Schinken- und Mettwurstbrote. Dann lief ich mit den Cousinen hinaus. Sie zeigten mir die Kühe, die Schweine, die Hühner, den Heuboden, den Obstgarten, das Backhäuschen und die Sandgrube. Ich dachte bei mir, daß es hier sehr schön werden könnte während der Ferien in Ostfriesland.


 

Auch ein Vier-Mädel-Haus, von dem aber nur die Mutter, Weerdina Schaa, bekannt ist, die einen Körte geheiratet hatte, der an der Bahn beschäftigt gewesen war. Das zweite Mädchen von links hieß Käthe, die später nach Emden geheiratet hat. Weiteres ist nicht bekannt.


 

Eigentlich hätte hier das Foto vom Steenfelder Bahnhof erscheinen sollen, aber leider konnte ich so schnell keines finden. Deshalb an dieser Stelle ein Postkartenfoto von Siepkes Gasthof in Steenfelde aus der Zeit, als es noch keine Autos und noch keine B 70 gab.


 

Archiv Gemeinde WOL


 

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